Playground 2021 - Diesseits

Stiesseid

 

Von Jürgen Engelhardt

 

Das Abendläuten verklingt und Hava Kagermann beginnt auf den Stufen der Osterkirche leise auf ihrer Gitarre zu spielen und dazu wunderschön zu singen. Passanten hasten vorbei, bleiben stehen, verharren, manche nehmen die musikalische Einladung an und betreten die Kirche.

 

Die Lichtinstallation am Eingang zeigt, worum es diesmal beim Gottesdienst der evangelischen Jugend im Kirchenkreis Berlin Nordost, dem sogenannten Playground, geht: Um das „Diesseits“. Die sich schnell ineinander verheddernden Buchstaben – mit einem Mal steht da: Stiesseid – lassen schon erahnen, was einem im Kirchsaal erwarten wird: Das Diesseits kann ganz viele Ausprägungen haben.

 

In dem seit Jahren schon von den starren Kirchbänken befreiten Kirchsaal stoße ich auf scheinbar zufällig aufgebaute 120 Paletten. Auf dem Fußboden helfen mir rote Pfeile und Linien, einen Weg durch das Palettenlabyrinth zu finden. So darf ich gleich einmal auf die Knie gehen und in einem Tunnel in ungewohnter Perspektive Klängen aus dem Diesseits lauschen. Wieder auf den Beinen, kann ich Zeitungsartikel in einer Collage miteinander kombinieren und ganz neue Zusammenhänge entstehen lassen - das Diesseits verändern?

 

An einer anderen Stelle werde ich eingeladen, aus einem Fensterspalt nach draußen zu schauen und auf einem Laptop aufzuschreiben, was ich da sehe: Ich erblicke die Bushalte, an der ich jahrelang am ganz frühen Morgen auf den ersten Bus gewartet habe. Ich sehe mit einem Mal auf der anderen Straßenseite die heute gar nicht mehr existierende Kneipe, vor der – während ich auf den Bus wartete – Ernst seine letzten Gäste in Taxis verfrachtete und mir einen Morgengruß zuwinkte.

 

Mit diesem Bild aus meinem vergangenen Kiez-Diesseits gehe ich zu einem Tisch, wo ich an ein langes Band, dessen Ende an der Empore befestigt ist, eine Fürbitte schreiben kann. Ich bitte Gott darum, dass die Osterkirche immer ein Ort des vielfältigen Diesseits sein möge.

 

Im besten Döblin’schen Alexanderplatz-Rhythmus werden mit einem Mal von der Kanzel Geschehnisse vom Tage in Berlin verlesen, dazu Wetter- und Verkehrsmeldungen. Das Diesseits ist wahrlich vielfältig.

 

Ich lasse mich einladen, auf die Empore zu gehen. Von hier oben wird deutlich, dass doch alles irgendwie seine Ordnung hat: Jetzt fügen sich die auf den ersten Blick zufällig aufgebauten Paletten zu dem das Diesseits beschreibenden Wort „WELT“ zusammen. Eine wunderbare Reminiszenz an den Playground zum Reformationstag 2019 mit dem Titel „Jenseits“, bei dem riesige weiße Himmelsplanen den Blick auf den Kirchraum von hier oben verwehrten und mich damals das jetzt sichtbare Diesseits nur erahnen ließen.  

 

Am Geländer der Empore enden die Bänder, an denen unten die Fürbitten festgemacht werden. Man möge sich ein Band hochziehen und es mit nach Hause nehmen und diese zufällig gezogene Fürbitte beten. Ich bete: „Gott, ich bitte dich um Heilung und um Linderung von Schmerzen … Ich bitte Dich um Trost, für alle die im Sterben liegen.“ Ja, auch das Sterben und der Tod gehören zum Diesseits. Damit gehört auch die Auferstehung dazu, die wenige Stationen später den Besucher berührt. Eines der Auferstehungsbilder am Altar der Osterkirche wird angestrahlt. Beim Betrachten des Bildes kann ich das Gedicht „Auferstehung“ von Marie-Luise Kaschnitz lesen: „Manchmal stehen wir auf, stehen wir zur Auferstehung auf - mitten am Tag ...“

 

Nur ein paar Impressionen können hier geschildert werden. Das Diesseits – von Tina Rupprecht, Tabea Möhlis, Julianne Wiemer, Annika Rinn, Susanne Werner und Matthias Reim in die Osterkirche gebracht – ist zu vielfältig, als dass es sich in ein paar wenige Artikelzeilen pressen ließe.

 

Wieder auf den Kirchstufen der Osterkirche höre ich, wie eine junge Frau sagt: "Gut fand ich die Station, wo man Zeitungsartikel ausschneiden und die Inhalte durch Überkleben ändern konnte, so dass ganz neue Bedeutungen herauskamen. Mit einem Mal dachte ich, Mensch ich kann ja das Diesseits verändern.“ Ein anderer Besucher ist fasziniert vom Angebot, kreativ sein zu können: „Solche Kreativität brauchen wir im Alltag unserer Gemeinden. Nicht nur einmal, sondern immer." Ein anderer sagt: „Dieser Kirchraum lädt einfach ein zum Bewegen – zum Bewegen durch das Diesseits.“

 

Ich blicke noch einmal auf die Lichtinstallation. Stiesseid löst sich gerade in seine einzelnen Buchstaben auf, frei und losgelassen tanzen sie im Eingang der Osterkirche. Während ich dem Buchstabentanz zusehe, kommt mir Dietrich Bonhoeffer in den Sinn: „Jedes Werden in der Natur, im Menschen, in der Liebe muss abwarten, geduldig sein, bis seine Zeit zum Blühen kommt.“ „Jenseits“ zum Reformationstag 2019, „Diesseits“ zum Reformationstag 2021 - geduldig wächst hier etwas heran….

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